An der Zollstelle
Die zwei Figuren mit den Totenköpfen auf der Bordwand bewegten sich mit dem Schiff auf und ab, so hatte es den Anschein, als würden sie sich in jeder Kurve übergeben müssen. Der tollkühne Torfschiffer, der hier sein Boot durch die Gräben, Kanäle und den Fluss Oste trieb, wollte schnell zu seiner versteckt liegenden Moorkate, um wertvolle Waren in Sicherheit zu bringen. Er kam aus dem Norden zurück. An der Elbe hatte der Bau der Festung Grauerort begonnen und er hatte es geschafft, dass die Soldaten aus der Umgebung zusammen mit dem Baumaterial auch Schmuggelwaren für ihn abzweigten. Diese versteckten die Wachhabenden für ihn am nächsten schiffbaren Graben. Ganz anders funktionierte das »System Gerd«, wie er es selbst nannte, in Stade.
Im Stadthafen am Kran mit dem Tretrad legten ihm sogar die Lademeister seine Bestellungen beiseite, damit sie auch hier nicht verzollt wurden. Von Hamburg bis Lüneburg, von Buxtehude bis hinauf nach Otterndorf standen geeignete Leute auf seiner Liste für Bestechungstaler. Dieser mutige Torfkahnfahrer erhielt seine Waren stets zollfrei in den Häfen und schmuggelte außerdem noch im Teufelsmoor. Sein Gewinn war beträchtlich. Doch seit einer Weile spürte er, dass die Zollkontrollen härter wurden und es stand zu befürchten, dass sich sein illegales Geschäft bald in Luft auflösen könnte. Seinen Ärger über die Zollvorschriften hielt er nur mit Mühe zurück und neue Ideen waren nicht in Sicht.
Die Eile auf der heutigen Fahrt hatte einen Grund. Immer wieder schaute er auf seine Taschenuhr. Ihm selbst war Zeit nicht wichtig, er hatte genug davon. Aber er kannte den Dienstplan der Zöllner am Hafen der Kreuzkuhle. Unbedingt wollte er noch hindurch, solange die Beamten Georg und Heinrich Dienst hatten. Die reinsten Angsthasen, dachte er ironisch, die werden sich an mein Schiff mit den Totenschädeln nicht herantrauen!
Gerd war ein wagemutiger Händler mit besonderen Fähigkeiten, der sich selbst als Kaufmann bezeichnete. Er bediente seine Kunden mit preiswerten Waren und sah sich eher als Wohltäter, der auch die ausgefallensten Wünsche zu erfüllen versuchte. In Gesprächen gab er sich stets friedfertig und harmlos, dabei setzte er seine Interessen neuerdings sogar gewaltsam gegen die Obrigkeit durch. Da er in keiner Akte der Königlichen Regierung auftauchte, wurde auch nicht nach ihm gefahndet. Weder die Beamten noch die Moorbauern wussten Genaues über ihn. Schließlich festigte sich wegen der roten Haare sein Ruf als Roter Gerd oder De Rode Gerd, wie es in der Sprache des Teufelsmoores hieß.
Bisher war er aufgrund seiner Erscheinung und der seines Bootes nur selten kontrolliert worden. Viele Menschen glaubten noch an Gespenster und sicherheitshalber schauten viele Zöllner zur Seite, wenn er mit den Totenschädeln an Bord vor ihnen auftauchte. Auf diese Weise konnte er die meisten Zollstellen unbehelligt passieren, doch wie lange würde dieses Spiel noch gutgehen?
Es geschah an einem späten Sommerabend: Der Fliegende Friedrich, das Boot des Roten Gerd, näherte sich der Hütte am Torfschiffhafen Kreuzkuhle im Norden des Teufelsmoores. Zufrieden stellte der Schmuggler fest, dass er gut in der Zeit lag und vor der Ablösung der Zöllner Georg und Heinrich eintreffen würde.
Perfekt, dachte er, während er den beiden Königlichen Zollbeamten zuwinkte und einfach weiterfahren wollte. Sie ließen ihn jedoch anhalten und die Ladung deklarieren. Offensichtlich war es mit der Wirkung der Totenköpfe vorbei. Er habe nur Torf, ließ er die Kontrolleure wissen, dieser sei fast zollfrei und er habe sowieso kaum Ware dabei, das Boot sei eben klein. Dennoch musste Gerd etwas von der Ladung Brenntorf beiseiteschieben.
Darunter kamen Säcke zum Vorschein, die Gerd nicht angemeldet hatte. Die Zöllner zogen nun alle Register ihrer Königlichen Autorität, bestiegen ungefragt das Boot und rissen die Jutebündel grob auf.
Über dieses rücksichtslose Vorgehen wurde der Schiffer so zornig, dass er ohne Bedenken seine Größe und Kraft nutzte und die Beamten kurzerhand niederschlug und sie von seinem Schiff schleifte. Jedoch gaben die nicht auf, rappelten sich wieder hoch und rissen im erneuten Kampf einige Strähnen der langen Haare ihres Gegners aus.
Aber es half nichts, die Zöllner gingen endgültig zu Boden. Gerd ließ sie ohnmächtig am Anleger zurück, sprang in sein Boot, riss es los und stakte in Richtung Worpswede davon. Nach kurzer Zeit bog er in einen der schmalen Kanäle zu einem seiner zahlreichen Verstecke ein und blieb zur Sicherheit einige Zeit verborgen.
Die Beamten erwachten erst aus ihrer Ohnmacht, als kaltes Wasser aus einem Eimer ihre Köpfe traf. Weil sie nicht nach Hause gekommen waren, hatten die Ehefrauen nach den beiden gesucht und sie reglos am Anleger gefunden. Sie halfen ihnen auf die Beine und versuchten zu verstehen, was hier geschehen war. Was Georg und Heinrich zu berichten hatten, war unerhört! Noch nie hatte es einen derartigen Überfall auf eine Zollstelle gegeben. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und mit jeder neuen Erzählung wurden weitere dramatische Ereignisse dazu erfunden.
Dieser eigentlich kleine Zwischenfall wurde auf diese Weise zu einem kapitalen Verbrechen ausgeweitet. War das Verhältnis der Moorbauern zu den Zöllnern seit ihrer Indienststellung niemals gut gewesen, so verschlimmerte es sich nun zusehends. Am Roten Gerd sollte sich nun die Wut der Zöllner entladen.
Die beiden Pechvögel hätten ihre Niederlage am liebsten verschweigen wollen. Doch nachdem sie von ihren Frauen ohnmächtig und verletzt aufgefunden worden waren, gab es nichts mehr zu verbergen. Die Frauen hatten ihre Männer gepflegt und, wo sie nur konnten, über deren Heldentaten berichtet, ohne zu wissen, was wirklich passiert war.
Das brachte die armen Zöllner in eine unangenehme Situation. Sie würden dem Moorkommissar alles genau erklären müssen. Aber was sollte das sein? Sie hatten einen Torfkahn kontrolliert und waren angegriffen worden. Nach einem dumpfen Schlag waren sie ohnmächtig in einen tiefen Schlaf gefallen.
Die Nachrichten über die erfundenen Superkräfte der Zollbeamten sprachen sich im Teufelsmoor schneller herum, als Torfkähne fahren konnten. Als die Berichte des Überfalls schließlich an Moorkommissar Erasmus Castell in Gnarrenburg herangetragen wurden, erreichte die Geschichte einen neuen Höhepunkt. Eine einfache Zollkontrolle, die in einen gewalttätigen Übergriff auf die Beamten geendet hatte, sollte jetzt zum Überfall eines tobenden Riesen geworden sein. Es hieß, das gesamte Teufelsmoor sei nun in Gefahr.
Nicht zuletzt wegen dieser abenteuerlichen Gerüchte beschloss Erasmus Castell, den mysteriösen Fall persönlich zu leiten und ließ sich zur Untersuchung am Torfschiffhafen Kreuzkuhle anmelden. Wenige Tage später traf er mit seinem Adjutanten an der Zollstelle ein.
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Wie werden die Erkenntnisse über den berühmten Schmuggler Worpswede verändern? Die Geschichte spielt zweihundert Jahre in der Vergangenheit und dennoch war De Rode Gerd ein Visionär. Seine Aufzeichnungen werden in der Zukunft gefunden ...
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