Die Entscheidung
Leseprobe Roman Der Schwarze Vogt, Kapitel 1 "Die Entscheidung" © Firoozeh Milbradt, TiPPS
Eine unheimliche Gestalt stand zwischen zwei eng stehenden Häusern am Findorff-Hafen, der ein kurzer, breiter Kanal in der Stadt Bremen war. Die Sonne ging leuchtend rot am Horizont auf. Es war ein windstiller Tag im Sommer des Jahres 1855. Der Mann im schwarzen Kapuzenmantel war praktisch unsichtbar, weil die Sonne die enge Gasse noch nicht erreicht hatte. Die sommerliche Morgenkühle brachte kaum frische Luft, denn vom nahen Bremer Bahnhof wehte ein leichter Geruch von Qualm und Kohle in den Hafen herüber. Seit acht Jahren fuhren hier bereits die Züge und der Verkehr hatte sich rasant entwickelt. Die Zeiten änderten sich.
Nur jemandem, der hinter diesem stillen Beobachter gestanden hätte, wäre die Figur als Schattenbild aufgefallen. Die Szene, die der Mann mit dem Kapuzenumhang bewegungslos beobachtete, war für die einfache Hafenanlage in der Stadt eine völlig alltägliche. Hier legten die Torfkähne aus dem Teufelsmoor voll beladen mit Brenntorf zum Heizen an. Entladen wurde per Hand in große Körbe, die die Torfbauern aus dem Moor auf die bereitstehenden Pferdefuhrwerke ausgekippten. Eine lange Reihe dieser Schiffe lag am Anleger, andere warteten weiter hinten bis in den Torfkanal hinein, der in dem Hafenbecken endete. Heute Morgen war es völlig windstill und die Torfschiffer hatten ihre Segel einfach am Mast gelassen. Die vielen Segel gaben dem Bild den Eindruck, als hätten es alle eilig mit ihrer Arbeit. Jeden Tag das gleiche Bild, mal mit und mal ohne Segel. Tag für Tag und Jahr für Jahr. Außer im Winter. Was also gab es hier zu beobachten?
Der Mann in der engen Gasse war der Schwarze Vogt. Er sah sonderbar aus, in seinem schwarzen Umhang mit Kapuze und war bisher dennoch kaum jemandem aufgefallen. Nur die „Brockenweiber“, die morgens hier ankamen, tuschelten über den sonderbaren Fremden. Als das Entladen der Schiffe begann, verstummten die Gespräche und Torf, der aus den Körben fiel, wurde aufgesammelt und durfte mitgenommen werden.
Seit Jahren war bekannt, dass der Vogt in einem großen Lagerhaus am Hafen an der Schlachte lebte. Wer dort für Geschäfte ein und aus ging, kam unauffällig und wurde kaum beachtet. Die Schlachte war ein Stadthafen an der Weser und über die Jahrhunderte der wichtigste Hafen in Bremen. Seit einiger Zeit legten die großen Schiffe weiter nördlich an, sodass der Hafen mehr und mehr an Bedeutung verlor. Der Schwarze Vogt brauchte eine neue Idee für seine Geschäfte.
Er stand nicht das erste Mal in dieser engen Gasse, um Torfschiffe zu beobachten. Wochenlang verbrachte er die frühen Morgenstunden hier und schaute zu, wie die Kähne entladen wurden. Jedes Mal zählte er die Körbe mit Torf, die von den Schiffen nach oben auf die Straße gehoben wurden und trug die Ergebnisse in Listen ein. War er einen Tag verhindert, rechnete er einen Durchschnittswert hinzu. Früh verließ er heute seinen Posten und ging betont langsam zurück zum Lagerhaus an der Schlachte. Er brauchte nicht lange, denn beide Häfen lagen im Stadtgebiet.
Die Zeile der Lagerhäuser stand parallel zur Weser. Ankommende Waren brachten die Hafenarbeitervon den Schiffen vor die Häuser, die nur wenige Fenster aber viele Ladeluken hatten. Unter dem jeweiligen Giebel gab es einen Kranausleger mit Flaschenzug, der die Waren auf die Höhe der richtigen Stockwerke hob. An der Rückseite der Lagerhäuser verlief eine Straße und parallel dazu einer der vielen Kanäle der Stadt. Seehafen und Kanäle wurden durch die Lagerhäuser getrenntund gleichzeitig durch den Warenverkehr miteinander verbunden.
Der Vogt war angekommen. Er öffnete eine kleine Tür an der Rückseite seines Hauses aus Richtung der Stadtkanäle. Durch einen langen Gang betrat er einen großen Raum, in dem mehrere Tische standen. Darauf lagen Papierbögen mit sonderbaren Plänen, die anscheinend noch nicht ganz fertig waren. Einige der unvollständigen Pläne hingen an der Wand.
Aus Richtung der Weser schien die Mittagssonne durch zwei winzige Fenster. Die waren immer geöffnet, um frische Luft hineinzulassen, denn die Feuchtigkeit am Hafen tat dem Papier nicht gut. Es war empfindlich und Kopien zur Sicherheit gab es nicht.Die vielen Türen im Raum wirkten fast dekorativ und doch konnten sie die sachliche Nüchternheit dieser technischen Welt nicht verdecken. Hier gab es nichts, außer dem Vogt, einigen Tischen, den Türen und dem vielen Papier. Der Vogt kannte nur sein Ziel. Schönheit und Freude hatten in diesem Leben keinen Platz.
Auf einer der Arbeitsplatten stapelten sich die Bögen mit den Notizen seiner Beobachtungen im Hafen. Die Ergebnisse von heute fügte er gerade hinzu. Zum ersten Mal nahm er an diesem Tisch Platz und übertrugvon jedem Blatt das Endergebnis in eine immerlänger werdende Liste. Die Ergebnisse waren leicht zu ermitteln. Wenn das Entladen der Schiffe begann, hatte der Vogt die Menge der Körbe schnell zählen können. Die meisten Torfkähne konnten fünfzig oder hundert Körbe Torf laden, das waren die ¼ und ½ - Hunt-Schiffe. Bei den 1 Hunt-Schiffen notierte er ca. 12 Kubikmeter und rechnete es in die Einheit „Körbe“ um.
„Das geht Tag für Tag so“, sprach der Vogt zu sich selbst. „Nur am Sonntag ruhen die aus“. Und dann rechnete er: Alleine heute hatte er 1.800 Körbe Torf gezählt und der Betrieb war noch nicht beendet gewesen, als der Vogt schließlich gegangen war. Er schätzte eine gewisse Mengehinzu und rundete sein Ergebnis auf 2.000 Körbe pro Tag auf. Die Aufzeichnungen kamen zu dem Ergebnis, dass allein in den bisherigen vier Monaten der Saison gut 200.000 Körbe Torf in Bremen entladen worden waren.
"Kein Wunder, dass die Moorbauern arm bleiben“, dachte der Vogt. „Die Menge des Torfes hat zwar einen hohen Wert, aber wie viele Moorbauern gibt es denn? Über 1.600 Torfschiffe soll es im Teufelsmoor geben und nicht jeder Bauer hat ein eigenes Schiff. Da bleibt für den Einzelnen nichts übrig“. Der Vogt prüfte nochmals seine Blätter mit den Zahlenkolonnen, rechnete das Ergebnis auf die Saison hoch und verglich alles mit den Zahlen des Vorjahres. So kam er auf die unfassbare Menge von 600.000 Körben Brenntorf pro Saison. Wie zur Bestätigung warf er den Stift auf den Tisch, sprang auf und versuchte, seine wilde Entschlossenheit unter Kontrolle zu bringen. Er rief: „Das Ding wird sofort gebaut“.
20mt20rd00 Media: ©Text TiPPS Bild TiPPS Lektorat Monika Ruddek
TiPP
Mitte 2023 erscheint Band 2 - Der Schwarze Vogt